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Leben in zwei Welten

  • Autorenbild: Jona
    Jona
  • 12. Apr.
  • 17 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Apr.


Willkommen zurück liebe Begleiter*innen :)


Weitere drei Wochen sind an uns vorbeigeflogen und wir sind inzwischen 1,5 Monate in Ghana. Die vielen Eindrücke, Erfahrungen aber auch Herausforderungen werden nicht weniger. Daran wollen wir euch teilhaben lassen. Zusätzlich will ich euch einen tieferen Blick in meine osteopathische Arbeit gewähren, den aktuellen Stand mit Edith aufzeigen und von dem großen „El Classico“ bei Baobab berichten.


Leben in zwei Welten

Wir fühlen uns in Ghana angekommen, neugierig und mittendrin. Trotz alledem fordert uns die Akklimatisierung noch immer heraus. Nicht nur körperlich, sondern auch mental. Die Unterschiede zu dem Leben in Europa sind kaum greifbar. Vieles lässt sich einfach nicht vergleichen oder in Worte fassen. Dazu haben wir das Privileg hier zwischen der „Luxusversion“ und dem „einfachen Leben“ der Ghanaer*innen zu wechseln.

Wir wollen das volle Erlebnis und das authentische Leben der lokalen Gemeinschaft nachempfinden, miterleben und darin eintauchen. Trotzdem merken wir, dass wir damit an gewisse Grenzen kommen und uns immer mal wieder in den Luxus von kühlen Getränken, Beachresorts und Eiskaffee flüchten.


Die ersten dreieinhalb Projektwochen leben wir unter der Woche im Projekt und fahren an den Wochenenden an den Strand. Für die restlichen zweieinhalb Wochen sind wir in Edith’s Haus am Meer umgezogen und verbringen einen Tag am Wochenende in Barnabas Zuhause (Mitarbeiter aus dem Projekt) mit seiner Familie.

Wir sind dankbar in beiden Welten eintauchen zu dürfen und es ist nicht leicht zu erklären, wie drastisch die Unterschiede sind.


Im Projekt wohnend sind wir mitten im Geschehen. Das bedeutet der Tag startet früh und laut. Die Hitze ist bereits drückend und das Gefühl von Trägheit und Erschöpfung begleitet uns oft über den gesamten Tag. Unsere Arbeit und die Aktivitäten erfüllen uns sehr, werden dadurch nur leider nicht weniger anstrengend. Wenn nach Arbeitsende die Dusche nicht funktioniert, kippen wir uns einen abgefüllten Eimer Wasser über den Kopf.

Am Meer weht hingegen eine angenehme Brise und gekühlte Getränke und ein Erfrischungsbad machen die Hitze erträglich.

Auch die Erfahrung „krank sein in Ghana“ wollen wir nicht missen und haben uns Beide nacheinander einer grippeartigen Erkrankung hingegeben. Ich hatte glücklicherweise nur zwei Tage etwas Schlappheit, Kopfschmerzen, „den fast schon normalen“ Durchfall und ein paar Schweißattacken, aber Lara hat sich das volle Programm „gegönnt“. Angefangen mit Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen und Durchfall und nochmal erweitert mit einem Kopfsturz auf Grund eines Kreislaufkollaps. Der hat wiederum zu noch mehr Kopfschmerzen, leichter Übelkeit und einem Lagerungsschwindel geführt. Ich berichte das so locker, aber das waren ganz schön herausfordernde 10 Tage für uns beide. Wer Lara kennt weiß, wie gerne sie tagelang ruhig im Bett liegen bleibt und die Umstände mit Dauerlärm und drückenden Temperaturen haben es ihr nicht leichter gemacht. Trotz alldem sind wir sehr dankbar für die liebevolle Unterstützung der Menschen im Projekt und durften auch hierbei den Luxus einer Privatklinik mit direkten Laboruntersuchungen und Medikation genießen. Malaria und Typhus Tests waren bei uns beiden negativ, das wird hier immer sofort untersucht und schnell und gut behandelt. Lara wurde ein Antibiotikum, ein Multivitaminpräparat, Schmerzmittel und ein Antimalariamittel für alle Fälle verschrieben. Die Gesamtkosten ihrer medizinischen Versorgung betrugen ca 25€, fast wie in Deutschland. Der Luxus einer Privatklinik ist hier für wenige eine Option. Seit 2003 gibt es eine gesetzliche Krankenversicherung, die allerdings nur die rudimentäre Grundversorgung bezahlt, der Rest bleibt eine große Herausforderung. Auf Grund dessen wird hier die medizinische Versorgung zu ca. 70% durch traditionelle Heiler*innen gewährleistet. Wir hören von guten und schlechten Erfahrungen mit den naturheilkundlichen Methoden, die häufig von Priestern durchgeführt werden.

Inzwischen sind wir aber beide wieder voll genesen und haben uns auch nach den Strapazen noch lieb.

Bei Beton bekommt selbst mein Dickkopf ne Beule

Gegenüber der lokalen Kulinarik sind wir neugierig und offen. Wir probieren die lokalen Gerichte und genießen aber auch unsere selbstgekochten Gerichte. Häufig sind die Gerichte hier scharf, fettig mit wenig Gemüse und auf Tomatensauce-Basis. Perfekt für mich mit meiner Abneigung gegenüber scharf und tomatig. Selbst bei den selbstgekochten Gerichten haben wir eine sehr begrenzte Auswahl an Lebensmitteln und Gewürzen und die Sehnsucht nach mehr Variation wird größer. Dafür ist unser tägliches Frühstück: frische Mango, Ananas und Banane umso saftiger! Unsere Verdauung bleibt aber nach wie vor skeptisch und ändert sich gefühlt täglich, Tendenz: „Like a River“. Denn Haltbarkeit ohne Kühlschrank und Hitze Tag und Nacht vertragen sich nicht sonderlich gut.

Dadurch ist der Kühlschrank mit Kühlfach in Edith’s Haus ein absolutes Upgrade für uns! Zwei Tage nach Einzug fahren wir extra nach Cape Coast, um in einem Supermarkt mit teilweise importierten Waren ein paar Leckereien zu kaufen. Hafermilch, Haferflocken, Nutella, Kokosmilch, Cashews, Erbsen, Oliven, Sahne, Zimt sind ein Teil des Einkaufes. Für Lara ist auch ein dicker Klotz Mozarella, Butter und Joguhrt ein absolutes Highlight. Wieder selbst frisch kochen zu können macht uns sehr glücklich und Lara zaubert erstmal eine Pasta mit frischen Pilzen von der Farm und Sahnesauce und als Nachtisch einen Bananenkuchen.


Zu Besuch bei Barnabas - Einblick in ein ghanaisches Zuhause

Vom Bananenkuchen packen wir etwas für den Besuch von Barnabas Familie ein. Dafür gehen wir an die Hauptstraße und warten auf ein Troo Troo (alte Kastenwagen, die hier den öffentlichen Verkehr darstellen). Wenn eins kommt hupen sie, halten die Hand raus und laden einen ein einzusteigen. In die Größe eines VW Busses passen hier ca. 17 Leute, manchmal noch zwei Gasflaschen in den halb offenen Kofferraum und etwas Holz aufs Dach. Die Fahrt kostet für eine halbe Stunde ca. 12 Cedi, umgerechnet etwa 80 Cent. Danach werden wir zu zweit auf einem Motorrad zu Barnabas Haus gebracht. Wir nennen dem Fahrer seinen Namen und er weiß sofort Bescheid, wohin es geht. Man kennt sich hier im Dorf. Er hat ein verhältnismäßig großes Haus mit 2-3 Räumen in denen 3 Erwachsene und 3 Kinder leben. Eine richtige Ordnung bei den Klamotten, Küchenutensilien und Geräten können wir nicht erkennen, aber sie haben sicher ihr eigenes System. Draußen hüpfen Ziegen und Hühner frei rum, die teilweise zum Nachbarn gehören. Die Meisten haben eine kleine Farm in der Nähe des Dorfes und versorgen sich mit eigenen Grundnahrungsmitteln, wie Kochbananen und Casava Wurzeln. Wir sitzen mit Barnabas zusammen und die Frauen kochen und versorgen uns. Es fühlt sich komisch für uns an, so bedient zu werden und nicht mithelfen zu dürfen und das die Frauen nicht mit uns zusammen essen. Seine Kids Chantal, Emanuela und Grace sind total süß und fahren zu dritt auf einem Fahrrad. Chanti ist erst zwei Jahre alt und wir sind die ersten weißen Menschen, die sie sieht. Sie wirkt entsprechend verwundert, aber auf unserem Schoß bleibt sie entspannt sitzen. Seine Frau bringt die große Schale mit dem Kloß in der Suppe mit etwas Fisch, Fleisch und Pilzen raus. Wir waschen uns die rechte Hand und essen gemeinsam das leckere Gericht aus einer großen Schüssel. Danach klettert einer der Nachbarjungs auf die Palme und wirft uns eine Kokosnuss runter. Ich darf mich das erste Mal an einer Machete ausprobieren. Wir genießen es sehr so herzlich eingeladen zu werden und einen so persönlichen Einblick in das Leben hier zu bekommen. Wir teilen den Bananenkuchen, bedanken uns und laufen durch das Dorf zurück zur Hauptstraße.

Troo Troo Fahrt bei Regen

Es ist für uns sehr eindrücklich all das zu erleben, es macht uns aber auch nachdenklich. An manchen Tagen fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass nicht jeder Mensch die gleichen Chancen im Leben hat. Wir können zwischen Luxus und einem einfachen Leben wählen, die meisten Menschen hier nicht mit denen wir sprechen. Die Armut, die finanzielle Instabilität und der schwierige Arbeitsmarkt lassen Träumen wie Reisen, persönliche Erfüllung oder Familiengründung häufig kaum Raum. Es bedeutet nicht, das hier alles „schlecht“ ist! Das Leben findet draußen statt, es wird sich offen auf der Straße ausgetauscht und wir werden häufig begrüßt und von fremden Menschen gefragt, wie es uns geht. Fernseher und Handys sind keine Standardausstattung und die Menschen sind auf ihre handwerklich und landwirtschaftlichen Fähigkeiten angewiesen. Auch deswegen sieht man hier kaum Kids mit ADHS oder stark übergewichtige Menschen mit Rundrücken. Alles natürlich nicht pauschalisiert aber das ist unser grober Eindruck in unserem aktuellen Rahmen.


Mit Herz und Hand: Osteopathie für besondere Herausforderungen

In den letzten vier Wochen durfte ich ganz besondere Erfahrungen machen. Ich habe viel gelernt – fachlich und menschlich – und die Jugendlichen sind mir in dieser kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen.

Ich habe bisher mit neun jungen Erwachsenen gearbeitet und in Summe rund 30 Behandlungen durchgeführt, die jeweils zwischen 1,5 und 3 Stunden dauerten. Die Behandlungen nahmen oft etwas mehr Zeit in Anspruch, da ich mich auf die unterschiedlichen Einschränkungen individuell einstellen musste und Lara oder Frederik in den Prozess mit eingebunden habe. Doch gerade diese intensive Herangehensweise war wichtig und richtig.


Ich wurde mit Fällen konfrontiert, wie ich sie in meiner bisherigen Praxis nur selten erlebt habe. Sowohl die Diagnostik, als auch die Einschätzung möglicher Behandlungserfolge stellen mich vor neue Herausforderungen. Was genau therapeutisch erreichbar ist, bleibt in manchen Fällen offen, aber jeder kleine Fortschritt zählt. Meine Behandlungsprinzipien bleiben jedoch gleich und der Körper des Patienten verrät mir welche Bereiche Unterstützung brauchen.


Es fällt mir nicht leicht die Arbeit auf einfache und verständliche Weise zusammenzufassen. Einerseits auf Grund der Individualität der Konditionen der Jugendlichen und andererseits wegen der Komplexität eines jeden Körpers.


Was sich wiederum gut zusammenfassen lässt ist allerdings das Vertrauen und die Offenheit, die die Jugendlichen mir und meiner Behandlung gegenüber entgegenbringen. Sie lassen sich darauf ein, dass ein junger, weißer Mann sie von oben bis unten am Körper berührt und behandelt und auch an amputierten Gliedmaßen, gelähmten Bereichen, die sensibler sein können, berührt zu werden. Dazu reden wir offen und ehrlich über Themen wie Verdauung, mentale Gesundheit, Ängste und Traurigkeit. Klingt für uns relativ normal, aber hier ist mentale Gesundheit noch längst kein selbstverständlicher Teil der medizinischen Versorgung. In den Augen der Verantwortlichen des Projekts ist die psychotherapeutische Versorgung hier katastrophal. Die psychisch Erkrankten leben oft als „Mad People“ auf der Straße. Sie laufen nackt oder verwahrlost mit zerrissener Kleidung herum oder sie kommen in eine Psychatrie, die sie medikamentös betäubt, woraufhin viele dort wieder ausbrechen. Außerdem ist hier das Bewusstsein über die Wichtigkeit der mentalen Gesundheit und die Akzeptanz von Themen wie Leid und Schwäche etwas schwierig. Wenn man krank ist, bekommt man gesagt „Be strong!“. Ein aufgehängtes Zitat an Brights Arbeitsplatz beschreibt es ganz passend: „Nobody is coming! Nobody is coming to save you. Get up. Be your own. Don’t blame the distraction, improve your focus. Don’t overshare. Privacy is power. Tough times never last, but tough people move in silence. Only speak when it’s time to say.


Diagnose und Behandlung

Auch das Wissen über die eigenen Erkrankungsbilder der Jugendlichen ist sehr begrenzt und oft fehlt eine umfassende und korrekte Diagnostik. Beim Erfragen der Entstehungsgeschichte ihrer Behinderungen kommen wir dadurch häufig an Grenzen. Das hat für meine osteopathische Behandlung keine direkten Konsequenzen, da ich den ganzen Körper untersuche und anhand dessen meine Therapie ausrichte. Aber am Beispiel von Christabel und Dora wird deutlich, welche Wichtigkeit auch die Diagnostik hat. Christabel ist letzte Woche 17 geworden und ich lerne sie im Behandlungsraum auf dem Fahrrad kennen. Sie wirkt zwar körperlich ziemlich dünn und zerbrechlich, aber sie ist eine selbstbewusste junge Frau, die gut Englisch spricht und weiß, was sie will. Sie läuft langsam und schwankend mit einer Krücke, die sie falsch herum hält und die zu klein wirkt. Bei unserer 1. Behandlung erzählt sie mir, dass ihre Einschränkungen mit vier oder fünf angefangen haben und seitdem nur schlechter geworden sind. Sie berichtet, dass sie schnell müde wird beim Laufen und Schmerzen in den Rippen, der rechten Schulter und im unteren Rücken hat. Außerdem berichtet sie von Schwäche in den Armen und den Beinen. Ihre Diagnose kennt sie nicht und weiß auch von keiner Untersuchung im Krankenhaus. Nach meiner eigenen ausführlichen Untersuchung und Behandlung gehe ich davon aus, dass sie ebenfalls Muskeldystrophie hat. Sie läuft im dafür typischen „Wartschelgang“, ihre Arme und Beine haben ein ausgeprägtes Kraftdefizit, wie auch die typisch dünn ausgeprägte Muskulatur durch den genetisch bedingten Abbau durch die Erkrankung. Wir behandeln das schiefe und teilweise bewegungseinschränkte Becken, die Wirbelsäule die in einer starken Skoliose funktioniert und können dadurch ihren Gewichtverteilung im Stand etwas zentrieren und dadurch stabilisieren. Im Nachgang frage ich Edith über ihren Fall, worauf hin sie mir mitteilt, dass Christabel eine Halbseitenlähmung hat. Diese Diagnose passt für mich allerdings nicht zu ihrem klinischen Bild und beim weiteren Nachfragen berichtet Edith, dass die Jugendlichen öfters mit unzureichenden Diagnosen zum Projekt kommen. Mich wühlt es ganz schön auf, da es für ihre Lebenserwartung einen drastischen Unterschied machen kann. Bei einer Halbseitenlähmung wäre diese nicht beeinflusst, doch bei einer Muskeldystrophie kann diese deutlich reduziert sein und der Verlauf wäre ein zunehmender Abbau der Muskulatur, bis hin zum Tod durch den Funktionsverlust der Atem- oder Herzmuskulatur. Verlauf und Schwere der Erkrankung sind dabei trotzdem variabel, je nach Form der Muskeldystrophie. Vielleicht ist es auch eine andere Muskelerkrankung, bei der es Hoffnung auf eine behandelbare Ursache gibt. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass es sinnvoll ist gemeinsam eine korrekte Diagnostik zu veranlassen. Mit voller Unterstützung des Projekts gehen wir gemeinsam in ein Krankenhaus und ich erkläre den Ärztinnen meinen Verdacht. Sie stellen ihr ähnliche Fragen zum Verlauf und bestätigen meinen Vorschlag den CK Wert (erhöht bei Abbau von Muskulatur) zu bestimmen, um herauszufinden, ob es sich um eine Muskeldystrophie oder eine autoimmun-entzündliche Bindegewebserkrankung (Polymyositis) handelt. Der Verdacht bestätigt sich in einem deutlich erhöhten CK Wert und Mitte April haben wir die nächste Untersuchung, um weitere Tests für die genaue Bestimmung ihres Erkrankungsbildes durchzuführen. Wir hoffen natürlich, dass sich mein Verdacht der Muskeldystrophie nicht bestätigt und es sich um eine besser therapierbare Erkrankung handelt!

Christabels Gang

Bei Dora, einem jungen Mädchen, das im Rollstuhl sitzt und auf dem rechten Auge nichts sieht sind wir ebenfalls im Prozess der Diagnoseerhebung. Seit sieben Jahren sind beide Beine gelähmt und ihr Sehvermögen einseitig verschwunden. Laut ihrer Erklärung kam es von dem einen auf den anderen Tag, doch mit ihr ist die Kommunikation aufgrund der Sprache und ihrer schüchternen Art etwas schwieriger. Der Grund für den Krankenhausbesuch sind neue schmerzhafte Krämpfe in beiden Hüftbeugern, die sonst gelähmt sind. Der Aufwand hier ein MRT zu machen ist nicht gerade gering. Die Fahrt in die Hauptstadt dauert aktuell fünf Stunden, die Wartezeiten im Krankenhaus sind lange und aufgrund finanzieller Engpässe ist die Rückfahrt noch am selben Tag zu leisten. Sie starten um 5 Uhr morgens und kommen gegen 23:30 am gleichen Tag zurück. Der Bericht soll am nächsten Tag kommen, doch stattdessen kommt die Nachricht, sie müsse nochmal kommen, um das Ganze nochmal mit Kontrastmittel zu machen, vorher gäbe es keinen Bericht. Erst durch die erneute Aufforderung eines Arztes aus der Klinik des näherliegenden Krankenhauses bekommen wir ihn und der Verdacht liegt bei einer Rückenmarksentzündung durch eine Infektion oder Multiple Sklerose, eine Autoimmunerkrankung. Vom Verlauf erscheint mir Multiple Sklerose als unwahrscheinlich, doch auch hier sind wir im Prozess der Diagnostik mit weiteren Laborwerten und eventuell einem weiteren MRT. Bei unserer letzten gemeinsamen Behandlung vergangene Woche arbeite ich vermehrt an ihren Hirn- und Rückenmarkshäuten, die Struktur, die das Gehirn und das Rückenmark umgibt, um dessen Versorgung zu verbessern. Die Behandlung ist auch für mich intensiv, da sich die Entzündung auf diesen Ebenen deutlich zeigt und eine feinfühlige Unterstützung erfordert.

Darüber hinaus denke ich an ihre therapeutischen Möglichkeiten für die diversen Verdachtsdiagnosen und stelle fest, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind.


Die Anpassungsfähigkeit von Struktur und Funktion

Eine weitere Gemeinsamkeit der Jugendlichen ist, dass sie alle ihre Behinderung schon mehrere Jahre haben und ihr Körper sich daran angepasst hat. In der Osteopathie ist ein Grundprinzip die wechselwirksame Beziehung von Struktur und Funktion, was sich in solchen Fällen deutlich veranschaulichen lässt. Im Beispiel von Emanuel, einem Mitarbeiter im Bereich der Rattanmöbelherstellung, wird das sehr deutlich. Er hat Kinderlähmung seit er ca. 10 Jahre alt ist. Dies bedeutet in seinem Fall, dass sein komplettes linkes Bein unterentwickelt und ohne motorische Funktion ist. Der Rest funktioniert einschränkungsfrei. Er läuft, rennt, arbeitet und spielt Fußball mit einem Bambusstock als Gehhilfe. Da seine aktuelle körperliche Funktion ein einbeiniger Gang mit einer Gehhilfe ist, hat sich die Struktur entsprechend angepasst. Das bedeutet, dass sein rechtes Bein nach außen gedreht ist damit der Fuß schrägt steht, um dadurch Stabilität nach rechts und links zu erhalten, die sonst durch den Zweibeinstand gegeben ist. Seine Fußmuskulatur ist stark ausgeprägt, genauso wie sein Oberkörper. Die Hüfte ist recht schief und die Wirbelsäule krümmt sich entsprechend der Position der Hüfte. Dadurch wird gewährleistet, dass sein Körperschwerpunkt über seinem Bodenkontakt ist und er nicht umfällt. Die Folge einer jahrelangen Belastung des Körpers in dieser Form ist eine Deformation des Beckens und des Hüftgelenks, was frühzeitig zu Arthrose und Gelenkbeschwerden führen kann. Er berichtet bereits von Schmerzen im unteren Rücken, im Nacken und in den Fußgelenken. In seiner Behandlung ist das Ziel nicht, das Becken, die Wirbelsäule und die anderen Körperteile zu begradigen, sonst würde er seitlich umfallen. Vielmehr sollen die überlasteten und in ihrer Bewegung eingeschränkten Gelenke befreit werden, um die Anpassungsmöglichkeit an seine Gegebenheiten zu verbessern. Es geht darum, die Funktion zu verbessern (zum Beispiel des eingeschränkten Hüftgelenks), damit die Struktur nicht weiter beschädigt wird (weniger Abnutzung des Hüftgelenks und Verhinderung von Bandscheibenvorfällen in der Wirbelsäule). Schon nach einer Behandlung steht er aufrechter mit weniger Wirbelsäulenkrümmung und mehr Stabilität im Becken. Beim zweiten Termin berichtet er mir, dass er keine Schmerzen mehr hat, weder in den Knöcheln, noch im Rücken. Auch sein Gang und seine Aufrichtung fühlen sich besser an. Aktuell würden ihm nur seine Handgelenke Probleme bereiten. Wir arbeiten weiter am ganzen Körper und integrieren alle beteiligten Einschränkungen von Halswirbelsäule bis Dickdarm. Die Behandlung macht Spaß, denn die Verbesserungen sind deutlich und seine Motivation ist groß. Ich zeige ihm zusätzlich ein paar Übungen und wir besprechen die Vorteile von „richtigen“ Krücken. Anfangs ist seine Einstellung dazu eher, dass er diese nicht braucht und ich glaube dass auch ein gewisser Scham eine Rolle spielt. Doch nach der 1. Behandlung fragt er mich, ob ich glaube, ob es vielleicht doch sinnvoller wäre auf zwei Krücken umzustellen. Ich lasse die Entscheidung bei ihm, doch freue mich, dass er auf meinen Rat hört und es mit Krücken probieren will. Der Vorteil davon ist, dass er so seinen Oberkörper und auch das Becken gleichmäßiger belasten kann und somit die Abnutzung bestimmter Bereiche reduzieren kann. Die Umstellung braucht natürlich Zeit, bis Struktur und Funktion sich gemeinsam aufeinander einstellen. Wir besorgen ihm Krücken vom gespendeten Geld und ich bin gespannt, was er in der nächsten Behandlung berichten wird.

Bilder: 1. Vor der ersten Behandlung 2. Nach der ersten Behandlung 3. Nach der dritten Behandlung



Emanuel :)

Alle Behandlungen und Verläufe hier aufzuführen würden den Rahmen völlig sprengen, auch wenn sie alle spannend und erzählenswert sind. Was sie aber alle verbindet ist deren positive Entwicklung! Alle Jugendlichen kamen mit diversen Schmerzen und Einschränkungen zur ersten Behandlung. Bei allen konnten wir eine deutliche Schmerzreduktion oder wie sie gerne sagen „my pain is only small small“, bis hin zur kompletten Schmerzfreiheit erreichen. Dazu haben sich bei vielen ihre Fortbewegungsmöglichkeit einerseits stabilisiert und verbessert. Die allgemeine Körperhaltung und die gleichmäßigere Belastung der Gelenke haben sich ebenfalls deutlich verbessert. Bedeutet in diesen Fällen, dass die Funktion eines schiefen Beckens oder eines deformierten Brustkorbs sich verbessert haben. Ein anderer Teil unserer Arbeit ist es, notwendige Hilfsmittel, wie Krücken, feste Sandalen oder Kissen für bessere Schlafpositionen zur Verfügung zu stellen.

Dazu ist die Integration von individuell angepassten Übungen eine schöne Zusammenarbeit von Lara, Frederik und mir. Von Mobilisationen, Gleichgewichtsübungen bis hin zu Basketballwürfen ist alles dabei. Aktuell planen Lara und Frederik an einer Gruppeneinheit für alle Jugendlichen mit Einschränkungen. Frederik wird derjenige sein, der die Betreuung weiterführen wird, also probieren wir ihm so viel Wissen, Techniken und Übungen mitzugeben wie möglich. Er ist sehr offen und einfühlsam, was auch die Zusammenarbeit mit ihm am Patient erleichtert. Wir hoffen mit unserer Arbeit einen bleibenden Effekt zu gewährleisten, damit sie lange von den erreichten Besserungen profitieren. Deswegen haben wir auch Wert auf die Selbstständigkeit, Lehre und Strukturanpassung gelegt.

Die Arbeit ist generell sehr erfüllend und wir merken wie vertraute, schöne Bindungen entstehen. Darüber hinaus ist es großartig Bright aufrecht neben uns stehen zu haben und zu sehen, wie er inzwischen 20 Minuten stehend verbringen kann und er wieder die ersten Schritte wagt. Andere Momente in denen wir über Ängste oder Sorgen mit ihren verschiedenen Herausforderungen sprechen sind dabei genauso wichtig und wertvoll. Die gemeinsamen Erfolge verbinden und bestätigen uns in dem Wunsch weiter mit Menschen mit ganz besonderen Herausforderungen im Leben zu arbeiten.

Bright‘s erste Schritte 🙏🏽
Fußballtraining 🤙🏽

Edith - Verstehen statt Verändern

Die Arbeit mit und um Edith bleibt weiter spannend. In den letzten zwei Wochen konnte Lara leider nur eine Woche mit ihr arbeiten, da sie krank war. Nichtsdestotrotz klären wir die Mitarbeitenden weiter über ihre persönliche Geschichte auf. Dazu vertrat ich Lara bei einem Belegschaftsmeeting und gab allen Angestellten einen ausführlichen Einblick über Ediths Hintergrund, ihr Verhalten und den Umgang mit ihr. Es war garnicht so leicht den komplexen Sachverhalt verständlich zu erklären. Für viele muss die Sinnhaftigkeit eines solchen Verhaltens sehr abstrakt klingen und das Bewusstsein über Trauma, Glaubenssätze oder andere psychologische Phänomene ist hier nicht wirklich verbreitet. Der Headmaster Mr. Techi übersetzt anschließend meine Erklärung in Landessprache und anhand der Reaktion der Mitarbeiter*innen merke ich, dass sie vieles davon verstehen. Auch im Nachgang dazu besprechen wir die weitere Vorgehensweise und dass Edith weitere verlässliche Bezugspersonen braucht, die sie unterstützen. Wir beschließen gemeinsam, dass sie bei der Wahl dieser Personen und auch generell bei Entscheidungen, die sie betreffen mehr involviert werden muss.

Darüber hinaus hatten wir eine Supervision zu Ediths Fall mit einem Therapeuten aus Deutschland. Dabei hat er uns definitiv in unserer Arbeit bestätigt und bestärkt. Ein paar seiner Aussagen haben es nochmal gut auf den Punkt gebracht und unser weiteres Vorgehen konkretisiert. Eine davon war, sie so zu lassen wie sie ist. Ihre zerrissene Kleidung und ihr Verhalten ist ihr Schutz und der Ausdruck ihrer inneren Verletzung. Es geht darum, sie so zu akzeptieren und es den Menschen um sie herum zu erklären, damit sie dafür nicht verurteilt wird. Eine andere Aussage war, dass sie bei ihrer Historie jedes Recht hat der Welt nicht zu vertrauen! Wenn sie im Umgang mürrisch, unzuverlässlich ist oder Angebote nicht annimmt, ist das völlig in Ordnung und nachvollziehbar. Bei dem Thema Hauseinzug hat er es auch schön auf den Punkt gebracht: Wenn sie nach dem Einzug in ihr Haus vor der Tür auf dem Boden schläft, war es jeden Cent wert! Das zeigt, dass sie sich dort wohl und sicher fühlt. Eine letzte sehr einleuchtende Erläuterung war, dass mit jeder Maßnahme, die für Edith unternommen wird, die Erwartung an sie dann „normaler“ oder „dankbar“ zu sein wächst und sie diesem Druck nicht nachkommen kann. Das führt wiederum zu Frustration bei den Verantwortlichen. Umso extremer die Maßnahme, desto höher die Erwartung und desto größer die Frustration.

Mit diesem neuen Rückenwind geht Lara gestärkt in die zweite Woche und arbeitet täglich mit ihr. Zwar ist ihre Laune jeden Tag eine Überraschung, aber sie erleben mehrere sehr gute Tage miteinander. An einem bastelt sie mit Kokosnüssen eine Tasche und sie sitzen lange zusammen und erzählen. Ihre Kreativität ist eine wertvolle Ressource für sie, über die sie sich selbstwirksam regulieren kann. Das soll noch mehr gefördert, anstatt eingeschränkt werden! Auch das Thema ihres Hormonchips wird besprochen und Lara findet raus, dass der Chip ihr manchmal Schmerzen bereitet. Edith will allerdings zum jetzigen Zeitpunkt keine Kinder und versteht jetzt besser, wieso es vorteilhaft für sie wäre diesen nicht rauszunehmen.

Den Tag darauf sind sie gemeinsam in Ediths zukünftigen Zuhause und sie wirkt deutlich apathischer, knöpft ihr Kleid komplett auf und sitzt halbnackt vor Lara. Vor allem in solchen Momenten ist es wichtig ihr Akzeptanz und Verständnis entgegenzubringen. An einem Tag gehen sie gemeinsam mit Jessica auf den Markt, um Edith Klamotten vom gespendeten Geld zu kaufen. Aktuell besitzt sie nur 1-2 Unterhosen, keine BH‘s, kaputte Flip Flops und viele der Kleider sind zerrissen. Erst vor drei Monaten hat ein Mitarbeiter ihr 10 Unterhosen und weitere Klamotten gekauft. Diesmal soll sie dabei aber mit integriert werden und sich die Sachen selbst aussuchen. Außerdem soll sie selbst entscheiden dürfen, ob sie diese zerrissen, dreckig oder ordentlich trägt.




Barcelona - Real Madrid- El Classico bei Baobab

Endlich haben wir es geschafft. Das lang ersehnte „El Classico“ Real Madrid gegen Barcelona findet statt. Nach wochenlanger Vorfreude, Vorbesprechungen und der Aufstellung des Kaders finden sich die Spieler gegen Nachmittag im Stadion Baobab’s ein. Es sind angenehm drückende 32 Grad und keine Wolke am Himmel. Perfekte Bedingungen für 90 Minuten Fußball in der Sonne. Die Organisation lässt etwas zu wünschen übrig, denn erst fehlt ein Ball, dann ein Schiedsrichter. Doch nach einem kleinen Aufwärmspiel mit den jüngeren Spielern, ist ein Schiedsrichter aus dem Dorf geholt worden und die Siegprämie in Form von 20 Flaschen Cola. Die Trikots werden übergezogen, getauscht, manche tragen einzelne kaputte Stutzen, manche den oberen Teil von ihren Socken um die Waden und alle spielen barfuß, inklusive mir. Mir ist es wichtig, mit den gleichen Voraussetzungen wie alle zu spielen und mir keinen Vorteil durch feste Fußballschuhe zu verschaffen. Die Trainer Bright, Collins und Isaac sitzen in ihren Rollstühlen mit Lara in der Coachingzone und spielen das Champions League Anthem. Die erste Elf steht auf dem Platz, was hier durchaus auch durch Größe, Alter und Leistung bestimmt ist. Von ca 14 bis Mitte 30 ist jedes Alter vertreten, also gehöre ich eher zu den Routines. Das Spiel geht los und nach anfänglichem Abtasten gewinnt das Spiel an Intensität. Der holprige Platz macht es nicht leicht und es werden viele hohe Bälle gespielt. Nach der ersten Halbzeit steht es 1:0 für Real Madrid und wir machen eine kurze Pause im Schatten. Wir besprechen mehr flach zu spielen und ich empfehle im Aufbauspiel mehr über mich zu spielen, da die Gegner bei hohen Bällen deutlich besser aufgestellt sind. Ich merke, dass meine Füße langsam anfangen etwas sensibler zu werden und überlege doch meine Schuhe zu holen, doch dann kommt der Pfiff zur 2. Halbzeit. Also geht es ohne Schuhe weiter und wir kommen besser ins Spiel! Die Taktik mehr flach zu spielen geht auf und wir machen das 1:1, das 2:1 und das 3:1. Die Euphorie ist groß und trägt uns durch die einsetzende Erschöpfung. In der Schlussphase wird es nochmal hitziger, da jüngere Spieler eingewechselt werden, um frischen Wind ins Spiel zu bringen. Zum Schluss gewinnen wir souverän mit 4:2! Der Jubel ist groß und die Auswechselspieler und Fans stürmen auf den Platz. Zum Abschluss gibts noch ein Siegerfoto im Tor mit dem gewonnen Cola-Pokal! Ich bin ziemlich platt und merke, dass ich keine 20 mehr bin. Auch die Blutblasten an meinen Fußsohlen zeigen mir, dass ich meine deutsche Herkunft nicht leugnen kann, auch wenn meine Beine jetzt fast schwarz sind. Trotzdem bin ich glücklich und stelle mal wieder fest, wie großartig Sport verbindet und bin dankbar für die neu gewonnen Freundschaften mit meinen Teamkollegen. Mich beeindruckt auch die Fairness, die an den Tag gelegt wird und die kommentarlos akzeptierten Entscheidungen des Schiedsrichters.

Jubel nach dem 3:1 für Barcelona
Eckball Barcelona 67. Spielminute

In den kommenden Wochen stehen Ediths Einzug in ihr Haus, die Abschlussfeier nach erfolgreicher Prüfung der älteren Schüler*innen und die Osterferien an. Damit verabschieden wir uns und bis zum nächsten Mal! :)


Lara & Jona


 
 
 

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